Begeisterte Kinder und Erwachsene erleben die Geschichte vom verbitterten Griesgram
In grauer Vorzeit gehörte "Ein Weihnachtslied" von Charles Dickens zum Schulstoff. Heute kennen die reizvolle, klassische Weihnachtserzählung höchstens spezielle Leseratten. Die Freien
Kammerspiele Magdeburg schaffen da Abhilfe, Regisseurin Franziska Ritter erkor die Story des englischen Autors in einer Fassung -von Wolfgang Wiens zum diesjährigen Weihnachtsmärchen. Franziska
Ritter tat einen guten Griff! Der Autor verzichtet auf jegliche Aktualisierungen und hält sich an die epische Vorlage, die jedoch genügend spannende Momente und Aktionen fürs Theater liefert.
Auch die Regisseurin vertraut der Intelligenz ihres Publikums und lässt die Geschichte da, wo sie hingehört, Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Aufführung jedoch als Weihnachtsmärchen der
Kammerspiele zu qualifizieren, wäre ungenau. Das Theater spart Kindergartenkinder hier deutlich als aus und wendet sich an Schüler und Erwachsene. Zu sehen ist eine Aufführung, die dem guten Ruf
der Kammerspiele Genüge tut: eine anspruchsvolle Ästhetik, Phantasie, Genauigkeit und Konkretheit bis ins Detail. Das beginnt mit der Ausstattung durch Toto. Das eigens für die Inszenierung
reaktivierte "Theater am Jerichower Platz" empfängt bereits im Foyer mit weihnachtlicher Atmosphäre. Aber es fehlen jeglicher Glitzer und Glimmer, statt dessen altertümliche Möbel und
Miniaturhäuser, Stände mit verschiedenen Gewerken, Tannenzweige, Stroh, eine auf grün und dunkelblau abgestimmte Farbigkeit. Auf der Bühne Bestimmen graue Wände das Bild, als Akzent ein
dunkelroter Stuhl. Farbige Kostüme zaubern das Biedermeier herbei. Die technischen Effekte signalisieren Theater nicht Hightech. Überhaupt wird alles Marktschreierische vermieden. Ein Maître de
Pläsir (Thomas Mette) und drei Bläser im Kostüm (Heinz Alex, Fritz Höpfner, Volker Melle) begrüßen das Publikum, versetzen es in Weihnachtsfreude. Auf der Bühne dann erleben die Besucher einen,
der es ablehnt daran teilzuhaben, den Geschäftsmann Ebenezer Scrooge (Horst Westphal). Weihnachten, Fröhlichkeit, Freundschaft, Liebe, all das ist für ihn schlicht "Humbug". Bürgern, die für
wohltätige Zwecke sammeln (Gerda Haase, Lothar Reuter) weist er die Tür.
Horst Westphal zeigt einen verbitterten Griesgram, dessen Gesichtszüge sich nur aufhellen wenn es ums Geld geht. Da ahnt man, dass dieser Mensch früher vielleicht auch fröhlich sein konnte. Am
Ende kann sein Scrooge sogar wieder tanzen. In dieser Weihnachtsnacht begegnet ihm Merkwürdiges: Sein toter Geschäftspartner Marley (Jürgen Raulien) kommt in gespenstiger Gestalt und kündigt ihm
drei Erscheinungen an: Die Geister der vergangenen, der gegenwärtigen und der künftigen Weihnachten. Díe ersten Beiden (Franziska Kleinert und Wolfgang Emmrich) geben sich freundlich, der Geist
der Zukunft jedoch erscheint als übergroße, schwarze Grauen erregende Figur. Sie konfrontieren Scrooge mit seiner Jugend und sie zeigen ihm die Wahrheit über sein Leben. Franziska Ritter und Toto
finden für die Rückblenden überzeugende Lösungen. Scrooges Kindheit zeigen sie als Puppenspiel im Miniaturhaus ( Puppenspiel Thomas Nette), den Weihnachtsball der Jugendzeit akzentuiert ein
Zerhacker, der optisch zugleich Tempo und Unwirklichkeit schafft. Aus dem verliebten jungen Scrooge, gespielt von Thomas Wingrich, wird einer, dem Geld wichtiger ist als seine Mary (Ulrike
Haase). Dann erschaut der grämliche Scrooge den ausgelassenen Weihnachtsabend seines Neffen Fred (Thomas Wingrich) und seiner Freunde (Matthias Reichwald, Susanne Menner). Scrooge beobachtet auch
die besinnliche Feier seines Mitarbeiters Bob Cratchít (Eckhardt Doblies) und seiner Familie (Franziska Kleinert als dessen Frau und Justus Kinder als kranker Sohn Tiny Tim). Regie und
Darstellern gelingt hier auf sehr poetische Weise ein ins Theatralische übersetztes Genrebild. Noch kann Scrooge sagen "Alles Humbug". Schlimm wird es erst im dritten Traum: der Geist zeigt den
Tod eines einsamen Geizigen, um den niemand trauert. Und er zeigt die traurigen Eltern am Grab des kleinen Timmy. Scrooge verzweifelt. Aber er darf erwachen und alles gut machen: Bob Cratchit und
Familie, Fred und seine Freunde und der kleine StraßenjungeEin Weihnachtslied (Tilmann Wiegand), sie alle werden zum Festmahl eingeladen. Tosenden Applaus. Begeisterte Kinder, begeisterte
Erwachsene verlassen den Saal.
Magdeburger Volksstimme
Gudrun Wolf